Denkmalsturz

Ein Erlebnis, das unsere Familie zwar nicht unmittelbar betraf, das ich aber wie ein Menetekel kommender Schrecken empfand, fällt, wenn ich mich nicht täusche, in die Zeit, als sich Franziska Kessel in unserer Wohnung versteckt hielt. Ich war, von Bekannten aus dem Ostend kommend, auf dem Nachhauseweg und ging durch die Pfingstweidstraße in Richtung Zeil. Es war schon sehr spät und kaum noch jemand unterwegs. Da sah ich am Anlagenring, wo die Zeil beginnt, eine Gruppe von vielleicht zehn oder zwölf Personen. Zu dieser späten Abendstunde war das sehr ungewöhnlich, darum ging ich auf die Gruppe zu, um zu sehen, was sich da tat. Beim Näherkommen erkannte ich, daß es alles junge Burschen waren.

Ein paar Schritte entfernt blieb ich stehen. Einer der Jugendlichen wandte sich um, ging auf mich zu und fragte: »Was willst du denn hier? Hau ab!«

»Ich wollte nur sehen, was hier los ist«, gab ich wahrheitsgemäß zur Antwort.

»Sieh zu, daß du verschwindest!« raunzte er mich an.

»Aber schnell!«

Ich zögerte ein wenig, denn auf diese Antwort war ich nicht gefaßt. Da packte mich der Bursche heftig am Arm und drohte mir: »Wenn du nicht gleich abhaust, dann knallt's! Hast du verstanden!«

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, ich sah auch, daß die andern auf uns aufmerksam wurden, und machte mich davon. Aber meine Neugier war geweckt, ich wollte wissen, was sich da am Zeileck abspielte. Deshalb ging ich nicht die Zeil geradeaus, sondern bog etwa hundert Meter weiter nach rechts in die Seilerstraße ein, machte einen Bogen durch den Anlagenring und näherte mich den Burschen von der anderen Seite. Ich wußte, daß sie mich von dort nicht bemerken konnten, überquerte die Straße und stellte mich in einen unbeleuchteten Hauseingang. Trotz der Entfernung konnte ich die Gruppe gut beobachten.

Mittlerweile war mir klar geworden, daß da nichts passiert war, sondern erst etwas passieren sollte. Ich wartete. Es sah aus, als ob alle um einen herumstünden, der ihnen etwas erzählte. Plötzlich kam Bewegung in die Gruppe, drei Personen lösten sich von ihr und liefen nach hinten zur Straße, um, wie mir später klar wurde, Neugierige abzuhalten. Die andern gingen auf das etwa fünfzig Meter entfernte Heine-Denkmal zu, das zwischen mir und ihnen stand. So kamen sie mir doch noch recht nahe, und es war mir gar nicht wohl in meinem Versteck.

Was dann geschah, dauerte nur wenige Minuten. Von allen Seiten versuchten die Burschen, die von Georg Kolbe geschaffenen zwei Figuren des Heine-Denkmals, ein sitzendes junges Mädchen und einen schreitenden Jüngling, mit Stemmeisen aus dem Steinsockel herauszubrechen. Aber es ging offenbar nicht so leicht, die Figuren waren zu fest verankert. Deutlich hörte ich das Knirschen der Eisenstange auf dem Stein. Dann kletterte einer an dem Sockel hoch, und während unten erneut das Stemmeisen angesetzt wurde, rüttelte er mit aller Kraft an der Jünglingsfigur. Die Verankerung mußte nachgegeben haben, denn einer reichte jetzt einen Strick nach oben, der um die Figur geschlungen wurde, dann zerrten die anderen sie von ihrem Sockel. Schon beim ersten Ruck stürzte der bronzene Jüngling herunter. Fast ohne ein Geräusch bohrte er sich in das Blumenbeet am Fuße des Denkmals. Kurz darauf stürzte auch die zweite Figur zur Erde.

Ich sah noch, wie sich zwei Burschen an der Plakette mit dem Bildnis Heines, die an der Vorderseite des Denkmals angebracht war, zu schaffen machten, dann zogen sie geschlossen in Richtung Berger Straße ab. Sie gingen ganz gemächlich, denn sie hatten keine Verfolgung zu befürchten. Sie wußten, niemand würde sie wegen dieser Tat belangen.

Als ich über die Konstablerwache nach Hause ging, erfaßte mich ein unheimliches Gefühl, eine Mischung aus Wut, Angst und Ohnmacht. Wut auf die, die schamlos solche Zerstörungen anrichteten, Angst, daß sie es nicht damit bewenden lassen würden, und Ohnmacht, selbst nichts dagegen unternehmen zu können.

Ich erinnere mich nicht, in einer Frankfurter Zeitung jemals etwas über den Denkmalsturz gelesen zu haben. Warum, ist mir nicht klar, denn sollte diese sicherlich von höherer Stelle angeordnete Aktion gegen den jüdischen Dichter Heinrich Heine eine Wirkung in der Öffentlichkeit haben, mußte man auch den Denkmalsturz in den Zeitungen publizieren, als spontane Reaktion der deutschen Bevölkerung gegen das Judentum. Es ist auch denkbar, daß kaum zwei Monate nach der Machtübernahme die Redakteure liberaler Zeitungen diese Denkmalschändung als so peinlich empfanden, daß sie die Meldung darüber unterdrückten.

Ich bin sicher, daß niemand außer mir das Herunterstürzen der Kolbeplastik beobachtet hat. Von meinem Versteck konnte ich bis hinüber zur Zeil schauen und weiß deshalb, daß während dieser Zeit kein Mensch vorübergegangen ist. Zweifellos waren es Hitlerjungen, die man zu dieser Zerstörungsaktion, einer der ersten in Frankfurt, abkommandiert hatte. Doch waren sie im Frühjahr 1933 noch Anfänger und beschädigten, wie sich später herausstellte, die Figuren nur leicht. Fünf Jahre später, in der »Kristallnacht«, beherrschten sie dann ihr Handwerk perfekt.

 

Kaiserhof Strasse 12
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